<<— Vorheriger Seite

Auszug aus Aliide, Aliide von Mare Kandre, Fortsetzung

Der offizielle Website für
Mare Kandre
 

Dort gab es Berge, und in den Bergen gab es Höhlen, und in den Höhlen, ganz tief innen, wenn man den kleinen verschlungenen unterirdischen Pfaden folgte, die bis ganz hinunter auf den Grund führten, wenn man dazu den Mut hatte, dann erreichte man schließlich die eigenartigen Tropfsteinformationen, die wie eine Menschengruppe, wie eine kleine Schar, die sich verlaufen hat, wie eine Familie, ja, eine Familie, zwei kleine Kinder und zwei noch wehrlosere Erwachsene, dort standen und sich in einem eiskalten, feuchten Gang versteckten, vor der Welt verborgen, und die der Guide dann auch ganz brutal mit seiner furchtbaren Lampe anstrahlte, so dass sie damit, für einen kurzen Augenblick, in all ihrer Hilflosigkeit für einen sichtbar wurden, in der Tiefe des Berges.
    Und eine ganz andere, viel reichere Sprache hatte es dort auch gegeben, Wörter, die sie schnell gelernt hatte und mit deren Hilfe es ihr ganz und gar geglückt war, die Vergangenheit aus ihrem Körper zu vertreiben, all die angstvollen Stimmungen, die sie früher beschwert hatten, aber die gleichzeitig unmöglich zu definieren oder zu beschreiben gewesen waren.
Wörter wie zum Beispiel –
CRISP.
    Ein dünnes, kleines Wort, das blitzschnell auf der Zunge wegschmolz, aber einen eindeutigen Minzgeschmack hinterließ, ein Wort, das eine dünne, dunkle, säuerliche Hülle besaß, aber innen ein bisschen kühl war, ein bisschen weiß.
    Oder –
    DANDELION.
    Das einen, wenn man es aussprach, dennoch auf merkwürdige Weise nicht richtig verlassen wollte, sondern sich

 

stattdessen wieder in den Körper zurückschraubte, hinaus in die Arme und Beine, wo es dann noch mehrere Tage nachklingen konnte.
    Und andere Wörter, Wörter im Überfluss, total viele und komische, aber auch einfache Wörter. Und Wörter, die sich in einem entfalteten wie gewaltige, sehr detailreiche Bilder, die in sich selbst sowohl Klang als auch Tiefe, Schärfe und Duft besaßen.
    Aber hier?
    Ja, hier –
    Was gab es dazu zu sagen? Die alte Sprache musste man also wieder in den Mund nehmen, und die war bei weitem nicht so durchlässig. Sie brach das Licht und die Gedanken nicht auf dieselbe Weise, so dass sich Farben und Lichtschein bildeten und einen erfüllten, stattdessen war jedes Wort matt und hart wie ein grauer, gewöhnlicher Stein, und mit diesen Wörtern im Mund pflanzte sich die Schwere im restlichen Körper weiter fort, der sich deswegen wieder komisch anfühlte, schwer und plump.
    Hier befand man sich nun ganz plötzlich in einer Stadt, die innen kalt und dreckig war, die eng war und aus lauter baufälligen, vorsintflutlichen, alten Bruchbuden zu bestehen schien, aus dunklen Straßen und Plätzen, einsamen Grundstücken, Hausüberresten und dann natürlich auch den neuerrichteten, noch ganz frischen Betonkomplexen, wo sie gerade eingezogen waren, diese verhasste Steinwüste, in der nichts wuchs. Und jetzt, wenn sie sich über das Balkongeländer lehnte und erst nach rechts sah, dann konnte sie auf dieser Seite, ganz hinten, die Kirche sehen, die mit ihren Zinnen und Türmen einen dringend notwendigen Kontrast zu dem sterilen Steinklotz hier darstellte.

Nächte Seite --->