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Mare Kandre
 

Auszug aus Aliide, Aliide
von Mare Kandre
Übersetzung von Isabelle Wagner

 

Nein, nein, nein und nochmals nein; dreifach, vierfach und zehnfach nein, musste Aliide jetzt feststellen, wenn sie früh morgens, nur im Nachthemd und mit vom Schlaf noch geschwollenem Gesicht, allein draußen auf dem Balkon stand, sich über das Geländer beugte und über die öde Passage hinausspähte, die sich zwischen den beiden neuerrichteten, noch nicht ganz fertiggestellten Hochhausreihen nach unten erstreckte –
    Nein, nein und noch einmal nein; dieses Land hier, diese Stadt hier, wie man das auch nennen wollte, dieser ehrlich gesagt gottverlassene Teil der Welt hatte ihr nicht viel zu bieten im Vergleich zu der paradiesischen Existenz, die sie gerade hinter sich gelassen hatte und aus der sie gegen ihren Willen vertrieben worden war, an die sie manchmal, wenn das Heimweh ihrer übermächtig wurde, noch mit Trauer im Herzen zurückdachte –
    Dort war alles üppiger gewesen, unendlich viel reicher und großartiger. Nimm zum Beispiel die Jahreszeiten! Jede von ihnen musste, aufgrund der Weitläufigkeit des Landes, unheimlich lang und kräftig sein, damit alle Teile des Landes, auch die allerdunkelsten und hügeligsten, auch die allerabgelegensten und unzugänglichsten, alle kleinen Käffer und obskuren Orte mit langen, unaussprechlichen Namen, ihren Anteil an Schnee, Sonne, Regen und Licht erhielten.


 

Die Entfernungen waren dort unglaublich, unüberblickbar, und es war außerdem ein offenes Land, und frei, bis in die großen Wälder hinein war es vollkommen frei! Und die Städte lagen weit auseinander, waren flach, noch nicht richtig fertig, sie rochen nach Papier, Wald, Sulfit und Hafergrütze, und die Straßen waren vorläufig noch sehr lehmig und breit –
    Das war ein Land, in dem man atmen konnte, in dem man sich bewegen konnte, wie man wollte, in dem man vollkommen wahrhaftig und ohne Angst sein konnte, in dem man Drachen steigen lassen konnte, in dem man in die Kiesgrube gehen konnte, THE GRAVEL PIT, wo die Weidenröschen im Überfluss auf den Kieshaufen wuchsen und man nach Bären suchen konnte, den entsetzlichen Grizzlies.
    Dort gab es alles, was man sich wünschen konnte, und mehr dazu –
    Sand und Schnee und Bäume aus Stein in großen Wäldern, die auf einmal, am Beginn der Zeiten, aus irgendeinem unerfindlichen Grund einfach aufgehört hatten zu wachsen. Und im Sommer heiße Abende, an denen die Grillen, die sich in der fettglänzenden Vegetation versteckten, in den Hecken und im Gras, so beharrlich und leise sangen, dass es klang, als säße eine wunderliche Frau allein in der Dunkelheit, mit einem steinbesetzten Umhang, und bohrte mit großer Geduld, lächelnd, Löcher in einen nassen, kleinen Stein.


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